Psychologische Sicherheit: mehr als „man kann hier alles sagen“

Teams, die miteinander arbeiten, sind nicht automatisch Teams, die gut zusammenarbeiten. Gerade in komplexen, agilen oder sich ständig wandelnden Kontexten zeigt sich, wie fragil Zusammenarbeit sein kann, wenn das Fundament fehlt: gegenseitiges Vertrauen, echtes Zuhören, ein sicherer Raum für Unsicherheit. Genau hier kommt psychologische Sicherheit ins Spiel – ein Konzept, das in der Praxis häufig genannt, aber selten wirklich verstanden wird.

Der Begriff Psychologische Sicherheit wurde durch Amy Edmondsons Forschung bekannt, die Anfang der 2000er-Jahre untersuchte, warum manche Teams in Krankenhäusern bessere Ergebnisse erzielten als andere – obwohl sie mehr Fehler meldeten. Die Antwort: In diesen Teams war es kein Zeichen von Inkompetenz, Fehler zu melden, sondern ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein. Fehler wurden nicht versteckt, sondern geteilt – weil die Teammitglieder sich sicher fühlten, dies tun zu dürfen.

Psychologische Sicherheit bedeutet:

  • Ich kann sagen, was ich denke, auch wenn es gegen den Konsens geht.

  • Ich kann Fragen stellen, ohne dumm dazustehen.

  • Ich kann zugeben, wenn ich etwas nicht weiß.

  • Ich kann Feedback geben und annehmen.

  • Ich kann sagen: "Das fühlt sich für mich nicht stimmig an."

All das ist in vielen Teams keine Selbstverständlichkeit. Und es ist auch nicht gleichbedeutend mit einem freundlichen Miteinander. Im Gegenteil: Psychologische Sicherheit zeigt sich vor allem dann, wenn es schwierig wird.

Was Teams oft davon abhält, sich wirklich zu zeigen

In vielen Teamprozessen beobachten wir dasselbe Muster: Ausgeprägte Höflichkeit, viele freundliche Gesten – aber wenig Tiefe. Kritik wird vorsichtig verpackt oder gar nicht geäußert. Spannungen werden ignoriert oder ins Private verschoben. Entscheidungen werden vertagt, weil man „niemandem auf die Füße treten will“.

Diese Muster entstehen nicht zufällig. Sie sind oft das Ergebnis vergangener Erfahrungen: mit Führung, mit Konflikten, mit Organisationen. Teams haben gelernt, dass es manchmal klüger ist, die Füße stillzuhalten. Oder dass es nicht lohnt, sich einzubringen, wenn sowieso nichts passiert.

Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, dass es keine Konflikte gibt. Sie bedeutet, dass Konflikte nicht als Bedrohung erlebt werden. Dass man sich streiten kann, ohne Angst vor Beziehungsabbruch. Dass Unterschiedlichkeit als Ressource gesehen wird, nicht als Problem.

Workshops als Erfahrungsräume – nicht als Maßnahmen

Workshops bieten einen seltenen Moment: Teams nehmen sich Zeit, um auf sich selbst zu schauen. Nicht auf Aufgaben oder Ziele – sondern auf das Wie der Zusammenarbeit.
Doch auch hier gilt: Nur weil ein Workshop stattfindet, entsteht noch keine Sicherheit. Ob ein Team sich öffnet, hängt stark davon ab, wie der Raum gestaltet wird, sowohl physisch als auch psychologisch.

Ein paar zentrale Fragen, die sich Moderator*innen oder Coaches im Vorfeld stellen können:

  • Wurde ausreichend Klarheit über Ziel und Rahmen geschaffen?

  • Gibt es eine explizite Einladung zur Offenheit und wird sie vorgelebt?

  • Wie wird mit kritischen Stimmen umgegangen?

  • Wird auf Tempo gedrängt oder ist auch Schweigen erlaubt?

Psychologische Sicherheit zeigt sich oft in den Zwischenräumen. In der Reaktion auf ein zögerliches „Ich weiß nicht …“. In der Haltung gegenüber Skepsis. In der Entscheidung, ein Thema nicht direkt in Lösungen zu überführen, sondern erst einmal stehen zu lassen.

Haltung statt Technik – was Prozessbegleitende beitragen können

Wer Workshops oder Teamentwicklung begleitet, steht in einer besonderen Verantwortung – nicht, weil er oder sie „verantwortlich“ ist für das Ergebnis, sondern weil die eigene Haltung wirkt.
Psychologische Sicherheit lässt sich nicht herstellen, aber ermöglichen.

Wichtige Elemente der Begleitung:

  1. Verlangsamung ermöglichen
    Entwicklung braucht Zeit. Gerade wenn Themen zum ersten Mal ausgesprochen werden, ist es hilfreich, Raum für Reflexion zu lassen – ohne sofort zu strukturieren oder „weiterzugehen“.

  2. Ambivalenzen aushalten
    Nicht alles lässt sich direkt klären. Widersprüche gehören zur Teamrealität dazu. Wer sie vorschnell auflöst, nimmt dem Team wichtige Lernmomente.

  3. Die eigene Rolle reflektieren
    Coaches und Moderator*innen stehen nicht außerhalb des Systems. Die eigene Unsicherheit, die eigenen Erfahrungen und Muster spielen mit. Reflexionsfähigkeit ist hier kein Extra, sondern Grundvoraussetzung.

  4. Sprache achtsam wählen
    Worte können Sicherheit geben oder sie nehmen. „Was macht das mit dir?“ wirkt anders als „Was stört dich daran?“. Gute Fragen öffnen Räume, ohne zu drängen.

Was Teams konkret tun können – erste Schritte in der Praxis

Auch ohne externes Coaching oder aufwendige Formate kann psychologische Sicherheit im Alltag gestärkt werden. Entscheidend ist die Regelmäßigkeit und der Mut, dranzubleiben.

Einige bewährte Praktiken:

  • Check-ins mit echter Relevanz: Nicht „Wie geht’s euch?“, sondern „Was bringst du heute mit – gedanklich, emotional, mental?“

  • Fehlermomente sichtbar machen: Was ist in letzter Zeit nicht so gelaufen wie gedacht, und was haben wir daraus gelernt?

  • Stille aushalten lernen: In Meetings bewusst Pausen setzen, um Reflexion zu ermöglichen. Nicht jede Sekunde muss gefüllt sein.

  • Ungehörte Stimmen einladen: „Wer hat heute noch nichts gesagt und möchte etwas ergänzen?“

  • Meta-Kommunikation üben: „Wie sprechen wir eigentlich gerade miteinander?“

Psychologische Sicherheit ist kein Zustand, sondern ein kollektiver Lernprozess

Teams, die sich sicher fühlen, sind nicht „fertig entwickelt“. Sie sind lernfähig. Sie können mit Unsicherheit umgehen, ohne sich zu blockieren. Sie wachsen an Unterschiedlichkeit – nicht trotz, sondern wegen ihr.

Psychologische Sicherheit ist kein weicher Faktor. Sie ist ein harter Wirkmechanismus in der Teamdynamik.
Und sie ist oft der Unterschied zwischen einem Team, das irgendwie funktioniert, und einem, das sich wirklich entwickelt.



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Methode im Fokus: Entscheidungsprozesse im Team bewusst gestalten

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Agiles Arbeiten entsteht nicht am Board