Das Riemann-Thomann-Modell – warum Unterschiede im Team keine Störung sind
Manchmal sitzen Menschen in Workshops zusammen, die auf den ersten Blick gar nicht so unterschiedlich wirken und trotzdem reden sie aneinander vorbei. Die einen wollen Struktur, die anderen Raum, die einen möchten Entscheidungen, die anderen lieber noch ein bisschen beobachten, weil sie das Gefühl haben, dass etwas noch nicht rund ist. Und oft ist die erste Reaktion dann: „Wir ticken einfach zu verschieden.“ Das ist vielleicht nicht verkehrt, aber irgendwie auch nicht ganz wahr, weil: Diese Unterschiede sind kein Beweis für Inkompatibilität, sondern für Lebendigkeit. Sie sind Ausdruck dessen, dass Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Erfahrungen und Perspektiven zusammenkommen und dass genau darin das Potenzial liegt, wirklich voneinander zu lernen.
Das Riemann-Thomann-Modell hilft, diese Unterschiede zu sehen, ohne sie sofort bewerten zu müssen. Es ist wie eine Landkarte, die Orientierung gibt, wo vorher nur Irritation war.
Vier Grundrichtungen und warum sie sich brauchen
Das Modell beschreibt vier Grundrichtungen menschlicher Bedürfnisse: Nähe, Distanz, Dauer und Wechsel. Es sind keine Schubladen, sondern Koordinaten – Spannungsfelder, in denen sich jeder Mensch bewegt, mal mehr hier, mal mehr dort, selten eindeutig, oft widersprüchlich. Nähe steht für Beziehung, Zugehörigkeit, gemeinsames Denken und Fühlen. Distanz für Autonomie, Klarheit und Selbstbestimmung. Dauer für Verlässlichkeit, Struktur und Stabilität. Wechsel für Bewegung, Neugier und Veränderung.
Keines dieser Felder ist „besser“ als das andere. Aber jedes kann kippen, wenn es zu stark wird. Zu viel Nähe kann erdrücken, zu viel Distanz vereinzeln, zu viel Dauer lähmen und zu viel Wechsel erschöpfen. Die Kunst liegt also nicht darin, sich auf eine Seite zu schlagen, sondern das Gleichgewicht zu halten: zwischen Halt und Freiheit, zwischen Beständigkeit und Entwicklung, zwischen Miteinander und Eigenständigkeit.
Wenn Unterschiede zur Reibung führen
In Teams zeigen sich diese Unterschiede ständig – manchmal leise, manchmal laut. Ich erlebe oft, dass genau dort, wo Menschen scheinbar „nicht zusammenpassen“, eigentlich etwas Spannendes passiert: ein Ringen darum, wie Zusammenarbeit gestaltet werden soll. Da gibt es die, die sagen: „Wir brauchen endlich klare Prozesse.“ und andere, die meinen: „Wenn wir alles festzurren, verlieren wir unsere Kreativität.“
Schnell entsteht der Eindruck, hier prallen Gegensätze aufeinander. Aber eigentlich sprechen beide über dasselbe, nämlich über Sicherheit. Die einen suchen sie in Struktur, die anderen in Freiheit. Und wenn man das versteht, verändert sich der Blick: Plötzlich geht es nicht mehr darum, wer recht hat, sondern darum, wie man gemeinsam Balance schafft.
Spannung ist kein Fehler im System
Ich erinnere mich an ein Team, das sich immer wieder zwischen Chaos und Kontrolle bewegte. Sobald jemand Struktur einbrachte, reagierte ein anderer mit Widerstand. Sobald man Freiraum ließ, kam der Ruf nach Orientierung. Ein ewiges Pendeln, ein Auf und Ab, ein ständiges Auf-der-Stelle-Treten, weil die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse zu sehr im Vordergrund stand und der Versuch, es der einen oder anderen „Seite“ recht zu machen. Bis zu dem Satz: „Vielleicht ist unser Problem gar nicht, dass wir zu unterschiedlich sind. Vielleicht ist das genau unser Gleichgewicht.“
Denn wenn man versteht, dass es nicht die eine richtige Position gibt, sondern dass wir uns alle, je nach Situation, mal mehr auf der Seite von Dauer und Stabilität und dann wieder auf der von Wechsel und Bewegung befinden, entsteht plötzlich ein anderer Blick. Ein Perspektivwechsel, der deutlich macht: Wir alle kennen beides: das Bedürfnis nach Sicherheit und das nach Veränderung. Wir alle wechseln, je nach Kontext, die Seite. Aus dieser Erkenntnis heraus kann echter Kompromiss entstehen: nicht als fauler Mittelweg, sondern als bewusste Entscheidung für Balance.
Teams brauchen Spannung, aber sie müssen lernen, sie zu halten. Nicht aufzulösen, nicht zu übertönen, sondern sie als Energiequelle zu begreifen. Denn da, wo sich Nähe und Distanz begegnen, wo Dauer und Wechsel miteinander tanzen, entsteht Lebendigkeit.
Das Modell als Gesprächsanlass – nicht als Etikett
Das Riemann-Thomann-Modell ist kein Test, kein Persönlichkeitsprofil, kein Tool, mit dem man Menschen kategorisieren sollte. Es ist ein Reflexionsrahmen, eine Sprache für das Unsichtbare. Ich nutze es oft, wenn Teams feststecken, weil es ihnen hilft, über Unterschiede zu sprechen, ohne in Bewertung zu verfallen. Plötzlich wird aus „Du bist immer so unstrukturiert“ ein „Ich brauche gerade mehr Dauer“ oder aus „Du bist so unflexibel“ ein „Ich merke, dass mir zu viel Wechsel Stress macht.“
Diese Verschiebung klingt klein, ist aber entscheidend. Sie verändert die Tonalität, mit der Teams über sich selbst sprechen. Es entsteht ein anderes Zuhören, ein anderes Verständnis und oft auch ein bisschen Humor. Weil klar wird: Niemand ist falsch. Wir stehen nur an unterschiedlichen Punkten auf derselben Landkarte.
Was ich daraus gelernt habe
Ich glaube, dass gute Zusammenarbeit nicht dann entsteht, wenn Menschen sich ähnlich sind, sondern wenn sie sich gegenseitig Raum lassen, verschieden zu sein. Unterschiede auszuhalten, bedeutet, Komplexität anzuerkennen – in sich selbst und im Gegenüber.
Das Riemann-Thomann-Modell hilft mir, diese Vielfalt nicht als Störung zu sehen, sondern als notwendige Bewegung. Es erinnert mich daran, dass jedes Team seine eigene Mischung finden muss, und dass genau diese Suche das Arbeiten lebendig macht. Manchmal ist Nähe dran, manchmal Distanz. Manchmal Struktur, manchmal Experiment. Das Entscheidende ist nämlich nicht, wo wir stehen, sondern ob wir miteinander in Bewegung bleiben.