Agile Fluency Modell: Orientierung für Teams
Was bedeutet es eigentlich, "wirklich agil" zu arbeiten? Viele Teams starten mit Scrum oder Kanban, merken aber bald: Frameworks allein reichen nicht. Es stellen sich substanzielle Fragen, wie z.B.: Welche Anforderungen werden an uns in Sachen “Agilität” gestellt? Was meint “agiles Arbeiten” in unserem Umfeld eigentlich genau? Genau hier setzt das Agile Fluency Modell von Diana Larsen und James Shore an. Es bietet eine Art Landkarte für die Entwicklung agiler Teams und macht deutlich: Agilität ist kein Ziel, sondern ein Reifungsprozess.
Was das Modell sagt
Das Agile Fluency Modell unterscheidet vier sogenannte Fluency-Zonen. Jede Zone beschreibt ein bestimmtes Verhaltensmuster, das Teams in ihrer Entwicklung zeigen, wenn sie eine bestimmte Art von Agilität erreicht haben. Wichtig ist: Diese Zonen bauen nicht zwingend aufeinander auf. Vielmehr geht es darum, bewusst zu entscheiden, welche Zone für das eigene Team oder die Organisation sinnvoll und erstrebenswert ist.
Fokus auf Wert: In dieser Zone geht es zunächst darum, Grundlagen zu schaffen. Teams lernen, sich auf wertstiftende Arbeit zu konzentrieren und regelmäßig kleine Ergebnisse zu liefern. Sie beginnen, ihre Arbeitsweise sichtbar zu machen, Prioritäten klarer zu setzen und sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Häufig ist dies der Einstiegspunkt in agiles Arbeiten.
Lieferung von Wert: Hier geht es darum, regelmäßig funktionierende Software oder Produkte zu liefern, die Kund*innen einen echten Nutzen bringen. Teams organisieren sich zunehmend selbst, entwickeln technisches Können weiter (z. B. Testautomatisierung, CI/CD) und übernehmen Verantwortung für Qualität und Lieferfähigkeit. Es geht nicht nur um Geschwindigkeit, sondern um kontinuierlichen, nachhaltigen Kund*innennutzen.
Optimierung für Wert: Teams in dieser Zone schauen über ihre eigenen Grenzen hinaus. Sie analysieren und beeinflussen Prozesse, Abhängigkeiten und Strukturen, um den Wertstrom systemisch zu verbessern. Es geht um funktionsübergreifende Zusammenarbeit, abteilungsübergreifende Optimierung und oft auch darum, mit Führungskräften an organisatorischen Engpässen zu arbeiten. Die Wirkung des Teams reicht hier weit über das eigene Backlog hinaus.
Führung für Wert: In der vierten Zone agieren Teams als strategische Partner*innen in der Organisation. Sie hinterfragen das Geschäftsmodell, treiben Innovation und Transformation voran und übernehmen eine aktive Rolle in der strategischen Weiterentwicklung des Unternehmens. Diese Zone ist selten, aber in bestimmten Kontexten extrem wirksam – z. B. in sehr reifen, dezentral organisierten Unternehmen.
Ein zentraler Punkt: Es gibt keine "bessere" oder "schlechtere" Zone. Entscheidend ist, welche Zone zum Kontext und zur Zielsetzung passt – und ob die Organisation bereit ist, die dafür nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Was Teams daraus mitnehmen können
Das Modell bietet Teams und Führungskräften eine gemeinsame Sprache, um über agile Entwicklung zu sprechen. Statt unklarer Aussagen wie "Wir wollen agiler werden" schafft es konkrete Anhaltspunkte:
Was können wir heute schon?
Welches Verhalten zeigen wir als Team?
Was wäre ein sinnvoller nächster Entwicklungsschritt?
Zugleich macht das Modell deutlich: Jede Zone bringt andere Anforderungen und notwendige Investitionen mit sich. Mehr Agilität gibt es nicht zum Nulltarif. Wer etwa echte Selbstorganisation will, muss dafür Raum, Unterstützung und Vertrauen schaffen. Wer systemisch wirken will, braucht Zugänge zu Entscheider*innen und Einfluss auf Strukturen.
Ab der dritten Zone – Optimierung für Wert – reicht Teamarbeit allein nicht mehr aus. Es braucht organisationales Lernen, veränderte Steuerungslogiken und oft auch ein anderes Führungsverständnis. Hier zeigt sich besonders: Agilität ist mehr als eine Methode. Sie ist ein kultureller und struktureller Wandel.
So kannst du das Modell nutzen
In der Praxis funktioniert das Modell gut als Reflexions- und Dialoginstrument. Einige typische Einsatzmöglichkeiten:
Team-Retrospektiven oder Standortbestimmungen: Teams reflektieren gemeinsam, wo sie sich aktuell einordnen würden. Hilfreich ist dabei oft ein visuelles Poster der vier Zonen und die Einladung, Beispiele für beobachtbares Verhalten zu sammeln.
Zielklärung in Veränderungsprozessen: Führungskräfte und Organisationsentwickler*innen nutzen das Modell, um die gewünschte Wirkung von agiler Transformation zu definieren – jenseits von Frameworks und Tools.
Coaching und Begleitung: Agile Coaches können ihre Interventionen daran ausrichten, was ein Team in der jeweiligen Zone braucht – und gleichzeitig Organisationen dabei helfen, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Ein weiterer Vorteil: Das Modell lädt dazu ein, realistisch zu bleiben. Nicht jedes Team muss zur strategischen Speerspitze werden. Manchmal reicht es völlig, zuverlässig und kund*innenorientiert zu liefern – wenn das zum Umfeld passt.
Kritische Gedanken
Wie bei jedem Modell gilt: Es ist ein Hilfsmittel, kein Naturgesetz. Das Agile Fluency Modell basiert auf Erfahrungen aus der Softwareentwicklung und ist dort besonders aussagekräftig. In anderen Kontexten – etwa HR, Marketing oder Produktion – braucht es manchmal eine Anpassung oder Ergänzung.
Auch verlaufen die Grenzen zwischen den Zonen nicht immer scharf. Teams bewegen sich manchmal zwischen zwei Zonen oder zeigen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Verhaltensweisen. Das Modell darf also nicht als starre Schablone verstanden werden.
Ein häufiger Fehler ist es, die Zonen als Reifestufen zu interpretieren. Wer glaubt, dass nur Zone 4 „richtig agil“ ist, verkennt den Kern der Idee. Es geht um bewusste Entscheidungen – nicht um Höher-Schneller-Weiter.
Was du daraus machen kannst
Das Agile Fluency Modell eignet sich wunderbar als Einladung zur Selbstreflexion: Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Und was wären sinnvolle nächste Schritte? Nimm das Modell mit in deinen nächsten Team-Workshop. Lass die Teammitglieder individuell einschätzen, wo sie das Team aktuell verorten. Diskutiert, was euch davon abhält, eine andere Zone zu erreichen; und was ihr gezielt tun könnt, um euch dorthin zu entwickeln. Halte dabei auch fest, welche Investitionen nötig wären – und wer sie leisten muss.