Delegation Poker: Klarheit statt Dauerdiskussion

„Wer entscheidet das eigentlich?“ – eine dieser Fragen, die selten auf der Agenda stehen, aber zuverlässig jedes Meeting verlangsamen. Manchmal wird sie laut gestellt, oft hängt sie unsichtbar im Raum. Und genau dann kippt ein Termin von „wir arbeiten“ zu „wir reden über’s Reden“. Am Ende gibt es drei Protokolle, fünf Folge-Meetings und null Entscheidung. Nicht, weil das Team unfähig wäre, sondern weil die Spielregeln unklar sind.

Delegation Poker ist dafür gebaut, diese Spielregeln sichtbar zu machen. Ja, da liegen tatsächlich Karten auf dem Tisch. Nein, es ist kein Spiel. Es ist ein Gesprächsformat, das Erwartungen über Verantwortung offenlegt und im besten Fall zu einer konkreten Vereinbarung führt, die hinterher gelebt werden kann. Das wirkt einfach, ist in der Praxis aber ein ziemlicher Effizienzhebel.

Worum es wirklich geht (und warum das so oft klemmt)

In der täglichen Zusammenarbeit prallen zwei Muster aufeinander: „Wir entscheiden alles gemeinsam“ (klingt demokratisch, endet oft in Endlosschleifen) und „Die Führungskraft entscheidet“ (klingt schnell, macht die Führung zur Engstelle und das Team passiv). Dazwischen liegt der Bereich, in dem moderne Zusammenarbeit eigentlich stattfindet: situativ delegieren – mit klaren Leitplanken, abgestufter Beteiligung und eindeutigem Entscheidungsrecht.

Das Problem: Diese Abstufungen sind selten explizit. Alle haben eine Annahme im Kopf („Das macht doch das Team.“ – „Nein, das willst du doch abnicken.“), aber niemand sagt sie. Delegation Poker holt diese Annahmen auf den Tisch. Nicht als Grundsatzdebatte, sondern an konkreten Entscheidungen: Wer priorisiert Features? Wer wählt Tools aus? Wer spricht Budgetverschiebungen frei? Wer entscheidet über Home-Office-Regeln? Und wer entscheidet eigentlich über das nächste Teamevent?

Was Delegation Poker ist

Kachel mit dem Text ‚Delegation Poker: Wer entscheidet eigentlich?‘ daneben bunte Spielkarten. Unten im Bild lächelt Julia Schmidt in einem Workshop-Setting

Das Format stammt aus dem Management-3.0-Werkzeugkasten und arbeitet mit sieben Delegationsstufen – von „Ich entscheide“ bis „Ihr entscheidet“. Wichtig: Das ist keine Moral-Skala. In regulierten Bereichen kann Stufe 1–3 absolut sinnvoll sein; bei anderen Themen helfen die Stufen 6–7 vielleicht eher dabei Tempo aufzubauen. Es geht im Delegation Poker nicht um maximal „liberal“, sondern um passend für die jeweilige Situation.

Im Termin wird je Entscheidung eine klare Frage gestellt („Wer entscheidet über X?“). Alle legen gleichzeitig eine Karte (ihre Stufe) auf den Tisch. Dann wird gemeinsam aufgedeckt. Die Magie steckt dabei in den Unterschieden: Wenn Führung „6“ legt („Team entscheidet, ich frage nach“) und das Team „3–4“ („Führung entscheidet nach Konsultation / gemeinsam“), ist keine Person „falsch“ – aber die Erwartungen sind widersprüchlich. Genau darüber wird gesprochen, bis eine gemeinsame Stufe vereinbart ist – plus Leitplanken (Budget, Risiken, Fristen) und ein Review-Datum. Danach wandert das Ergebnis gut sichtbar ins Delegation Board oder Entscheidungslog.

So läuft das in der Praxis

Ich habe es häufig so erlebt: Ein Team diskutiert seit Wochen die Tool-Auswahl. Alle ahnen, dass das Team fachlich besser entscheiden kann; gleichzeitig wartet man „zur Sicherheit“ auf das finale Go der Führungskraft. Ergebnis: Stillstand. In einer Delegation-Poker-Session wird die Frage einmal sauber gestellt: „Wer entscheidet über die Auswahl des neuen Ticket-Tools?“ Die Karten liegen, die Unterschiede werden sichtbar, die Leitplanken werden benannt (Datenschutz, Integration, Budget), Stufe 5 wird vereinbart („Team entscheidet, Führung berät“), Review in einem Sprint. Auf einmal bewegt sich etwas, nicht weil jemand „mächtiger“ wurde, sondern weil die Regel explizit ist.

Ähnlich bei Priorisierung: Die Führungskraft ist überzeugt, „das Team priorisiert doch längst“. Das Team sagt: „Wir priorisieren, bis du kommst, dann priorisieren wir anders.“ Nach der Runde ist klar: Stufe 6 („Team entscheidet, Führung fragt nach“) und die Führungsaufgabe ist es, die Entscheidungsqualität zu sichern (Kriterien, Risiken), nicht die Entscheidung an sich.

Und ja, es gibt auch Themen, die bewusst nicht delegiert werden (z. B. arbeitsrechtliche Fragen oder High-Risk-Releases). Dann steht da halt Stufe 2–3 – sauber begründet, mit klarer Zusage, wann und wie das Team konsultiert wird. Auch das ist Entlastung: Niemand wartet auf einen Freigabe-Schatten, der nie kommt.

Warum das wirkt (jenseits der Karten)

Es passiert dreierlei:

Erstens: Diskussionen werden entpersonalisiert.
Wir reden nicht mehr über „Chef vs. Team“, sondern über Stufen und Leitplanken. Das nimmt Drama raus und macht mögliche Konflikte leichter bearbeitbar.

Zweitens: Verantwortung wird sichtbar.
Delegation ist kein Schwarz-Weiß. Zwischen „ich entscheide“ und „ihr entscheidet“ liegen Konsultation, Beratung, Nachfragen, Pilot-Freigaben. Diese Graustufen sind der Alltag. Delegation Poker gibt ihnen Namen und bringen all diese Graustufen in die Sprachfähigkeit.

Drittens: Tempo entsteht durch Klarheit.
Wenn klar ist, wer entscheidet und woran die Person das festmacht (Kriterien), verschwinden Absicherungsschleifen. Entscheidungen wandern dorthin, wo sie hingehören.

„Aber wir haben doch keine Zeit für so was …“

Die ehrlichste Antwort: Ihr habt gerade Zeit für wiederkehrende Missverständnisse. Eine fokussierte Session à 60–90 Minuten klärt fünf bis acht wiederkehrende Entscheidungen und ihr spart euch in den nächsten Wochen locker einen halben Tag Meetings, Rückfragen und „kannst du noch mal kurz drübergucken?“.

Das Format skaliert übrigens gut asynchron/hybrid: Stille Kartenwahl in Miro/Mural, kurzes Aufdecken, 10-Minuten-Diskussion je Frage, Vereinbarung ins Board, fertig. Wichtig ist nur: gleichzeitig wählen (gegen Anker-Effekte), so klein wie möglich tagen (6–8 Personen reichen) und so spezifisch wie nötig fragen („Wer entscheidet die Budget-Verschiebung > 5 Tsd. €?“ statt „Wer entscheidet über Budget?“).

Was es bewirkt – jenseits der einen Session

Wenn Delegation Poker regelmäßig genutzt und die Vereinbarungen sichtbar gehalten werden, verändert sich die Zusammenarbeit:

  • Weniger Flaschenhals-Führung. Führung bleibt Führung, aber nicht mehr Gatekeeper für alles. Das entlastet die Führungsrolle und beschleunigt das Team.

  • Mehr Selbstverantwortung mit Netz. Teams wissen, was sie entscheiden dürfen und wo sie Rücksprache brauchen. Das ist kein „springt ins kalte Wasser“, sondern delegiertes und organisiertes Zutrauen.

  • Bessere Entscheidungen. Weil Kriterien explizit sind (z. B. Risiko, Kunde, Regulatorik), sind Entscheidungen nachvollziehbar. Weniger Bauch-Gefühl, mehr gemeinsam getragene Gründe.

  • Weniger Schattenarbeit. Keine halboffiziellen Absprachen im Flur, keine stillen Freigaben. Das senkt Reibung und Politik.

Und ja: Das alles braucht psychologische Sicherheit. Karten ehrlich zu legen, heißt, die eigene Sicht zu zeigen, auch wenn sie vielleicht nicht „mehrheitsfähig“ ist. Das geht nur, wenn klar ist: „Es gibt kein richtig/falsch. Wir machen Erwartungen sichtbar und treffen eine Vereinbarung auf Zeit.“

Typische Stolperfallen (und wie du sie umgehst)

  • „Sieben ist immer besser.“ Nein. Es gibt gute Gründe für 2–3. Sag das auch mal laut. Delegation ist situationsabhängig, nicht ideologisch.

  • Zu große Körbe. „Wer entscheidet über Personal?“ ist zu grob. Besser: „Wer entscheidet über die Einladung zum Zweitgespräch? Über die finale Einstellung?“

  • Senior anchoring. Wenn die ranghöchste Person zuerst legt, folgen andere unbewusst. Lösung: gleichzeitiges Aufdecken, oder Führung legt zuletzt.

  • Schöne Boards, keine Praxis. Ein Delegation Board ist kein Poster. Plant direkt Review-Zeitpunkte („gültig bis …“) ein und nutzt eure Team-Retros, um Abweichungen zu besprechen: „Wo haben wir gegen unsere Vereinbarung gehandelt und warum?“

Wie du startest (ohne großes Tamtam)

Nimm dir ein Team, eine Stunde, fünf wiederkehrende Entscheidungen. Formuliere je eine klare Frage. Lade nur die Rollen ein, die betroffen sind. Karten verteilen, gleichzeitig legen, Unterschiede besprechen, Stufe festhalten, Leitplanken dazu, Review-Datum setzen. Ergebnis ins Delegation Board/Entscheidungslog, sichtbar für alle.

Nach zwei bis drei Wochen machst du eine Mini-Auswertung: Was wurde schneller? Wo gab es Verwirrung? Welche Stufe müssen wir anpassen? Genau da beginnt die Lernschleife und Delegation wird von „Event“ zu Arbeitsweise.

Und die Führung?

Führung ist nicht weg, wenn mehr delegiert wird. Führung wechselt nur die Rolle: von „Ich treffe die Entscheidung“ zu „Ich schaffe die Bedingungen, damit die beste Entscheidung dort getroffen wird, wo die Expertise liegt“. Das heißt: Kriterien klären, Grenzen benennen, Rückendeckung geben und aushalten, dass nicht jede Entscheidung so ausfällt, wie du sie getroffen hättest. Das ist kein Kontrollverlust, das ist bewusste Steuerung.

Delegation Poker ist kein nettes Spielchen für den Feierabend, obwohl es auch Spaß machen kann. Es ist ein klares, schnelles Format, das die wichtigste Ressource im Arbeitsalltag schützt: Klarheit. Klarheit, wer entscheidet. Klarheit, woran sich Entscheidungen orientieren. Klarheit, wann wir überprüfen und nachschärfen. Und genau diese Klarheit spart am Ende das, woran es den meisten Teams mangelt: Zeit, Energie, Nerven.

Wenn du das nächste Mal in einem Meeting sitzt und merkst, wie sich alles im Kreis dreht, frag nicht nach der nächsten Methode. Frag leise das, was eh alle denken: „Wer entscheidet das eigentlich?“ und leg die Karten auf den Tisch.



Im Teamworkshop “Verantwortung klären mit dem Delegation Board” erarbeitet ihr für euch mit oder ohne Delegation Poker euer persönliches Delegation Board. Mehr über unser Workshop-Angebot erfahrt ihr hier.

Weiter
Weiter

Meetings ohne Sinn: Effizienz heißt nicht, mehr reinzupacken