Konflikte verstehen und begleiten: Die neun Eskalationsstufen nach Glasl

Konflikte gehören zum Arbeitsalltag, auch in (agilen) Teams, in denen Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, Werten und Erfahrungen zusammenarbeiten. Unterschiedliche Meinungen oder Prioritäten sind da völlig normal. Die Frage ist also nicht, ob Konflikte entstehen, sondern wie wir mit ihnen umgehen.

Das Modell von Friedrich Glasl ist für mich eines der praxisnähesten Werkzeuge, um Konflikte besser zu verstehen und angemessen zu begleiten. Es zeigt in neun Eskalationsstufen auf, wie sich Konflikte typischerweise entwickeln und welche Interventionsformen in welcher Phase hilfreich sind. Gerade als Agile Coach oder Führungskraft hilft mir das Modell dabei, Konfliktdynamiken frühzeitig zu erkennen und meine Rolle gut zu reflektieren. Und vor allem: Ich kann besser einschätzen, was das Team selbst noch lösen kann und wann es Unterstützung von außen braucht.

Warum Glasl?

Glasl denkt Konflikte nicht als einmalige Eskalation, sondern als Prozess. Konflikte sind in seiner Sicht wie ein sich langsam zuspitzender Verlauf, der mit kleinen Unstimmigkeiten beginnt und – wenn nicht eingegriffen wird – in destruktiven Verhaltensmustern enden kann. Je weiter ein Konflikt fortschreitet, desto emotionaler, komplexer und verhärteter wird er. Die Handlungsfähigkeit der Beteiligten sinkt, der Lösungsraum wird enger. Und genau deshalb ist es so wichtig, möglichst früh genau hinzuschauen.

Ich schätze an Glasls Modell besonders, dass es sehr differenziert ist, ohne theoretisch zu werden. Es benennt typische Verhaltensmuster, die wir alle schon erlebt haben in der Rolle als persönlich Betroffene, Beobachtende, aber auch Begleitende. Und es macht deutlich, wann ein Konflikt noch durch Dialog gelöst werden kann und wann dieser Dialog bereits gestört oder gar unmöglich geworden ist.

Die neun Eskalationsstufen nach Glasl im Überblick

Stufe 1 bis 3: Win-Win – Der Konflikt ist noch lösbar

1. Verhärtung
Was mit einer Meinungsverschiedenheit beginnt, wird nicht weiter beachtet. Die Beteiligten gehen davon aus, dass sich das schon wieder einrenkt. Doch die erste Irritation bleibt und mit ihr eine gewisse emotionale Spannung. Diese Phase wird oft übersehen oder als „nicht so schlimm“ abgetan. Genau hier läge aber die größte Chance zur Klärung.

2. Debatte / Polemik
Die Gespräche werden spitzer. Argumente werden nicht mehr nur ausgetauscht, sondern gegeneinander ausgespielt. Es geht darum, recht zu haben und nicht mehr unbedingt darum, einander zu verstehen. Der Ton verändert sich, oft subtil: Ironie, Sarkasmus, Seitenhiebe. Hier kann eine einfache Diskussion kippen.

3. Taten statt Worte
Die Kommunikation wird spärlicher oder ganz eingestellt. Statt zu sprechen, handeln die Beteiligten einfach. Entscheidungen werden ohne Rücksprache getroffen, Aufgaben bewusst nicht erledigt oder Kommentare bewusst vermieden. Der offene Dialog ist gestört.

Was bei diesen drei Stufen hilft: Team- oder Einzelcoachings, moderierte Gespräche, Klarheit über Erwartungen. Wichtig ist: Die Beteiligten sind grundsätzlich noch gesprächsbereit, auch wenn sie sich zurückziehen oder ärgern. Der Wille zur Lösung ist da, auch wenn es schwerfällt und nicht immer Freude macht.

Stufe 4 bis 6: Win-Lose – Der Konflikt spaltet das Team

4. Images und Koalitionen
Die Beteiligten beginnen, sich gegenseitig negativ zu bewerten. Es entstehen „Geschichten“ übereinander, Rollenverteilungen verfestigen sich: Die eine ist die „Blockiererin“, der andere „immer so emotional“. Gleichzeitig entstehen Allianzen: manchmal offen, manchmal unterschwellig. Die Konfliktparteien suchen sich Verbündete.

5. Gesichtsverlust
Die Auseinandersetzung wird persönlich. Es geht nicht mehr nur ums Thema, sondern darum, wer sich behaupten kann oder wer sich bloßgestellt fühlt. Das Vertrauen ist weitgehend zerstört. Die Beteiligten fühlen sich in ihrer Integrität angegriffen, reagieren verletzt oder aggressiv. Es wird schwieriger, eine Gesprächsebene herzustellen.

6. Drohstrategien
Macht kommt ins Spiel. Es wird mit Eskalation, Konsequenzen oder Ausschluss gedroht. Auch implizite Drohungen („Wenn das so weitergeht, ziehe ich Konsequenzen“) sind typisch. Die Beteiligten agieren strategisch und längst nicht mehr kooperativ.

Was bei diesen Stufen helfen kann: Externe Konfliktmoderation oder Mediation. Die Beteiligten brauchen einen sicheren Raum, in dem sie gehört werden, möglichst ohne sich dabei noch mehr zu verletzen. Der Konflikt kann nicht mehr alleine gelöst werden.

Stufe 7 bis 9: Lose-Lose – Der Konflikt wird destruktiv

7. Begrenzte Vernichtungsschläge
Die Beteiligten wollen nicht mehr nur gewinnen. Sie wollen vor allem, dass die andere Partei verliert. Es geht nicht mehr um Argumente, sondern um Schaden. Persönliche Informationen werden gezielt eingesetzt, Verbindungen untergraben und Entscheidungen blockiert. Auch dann, wenn es dem Team schadet.

8. Zersplitterung
Die Gegenseite wird systematisch destabilisiert. Vertrauensverhältnisse werden zerstört, Unterstützung im Team wird entzogen. Kommunikation findet kaum noch statt und wenn, dann nur noch auf formale oder verletzende Weise. Die Beteiligten sehen sich nicht mehr als Teil eines gemeinsamen Systems.

9. Gemeinsam in den Abgrund
Der Konflikt hat sich so weit verselbständigt, dass es nur noch um Zerstörung geht. Selbst der eigene Schaden wird in Kauf genommen, Hauptsache, die andere Seite verliert ebenfalls. In Teams äußert sich das zum Beispiel in Fluktuation, psychischer Belastung oder vollständigem Stillstand. Nichts geht mehr.

Was hier helfen kann: Professionelle und klare Intervention. Organisationsentwicklung, HR, Führungsebene – je nach Kontext. Ohne klare externe Begleitung ist ein konstruktives Miteinander kaum mehr möglich. Glasl nennt diese Intervention “Machteingriff”. Hier können auch Kündigungen die einzig hilfreiche Lösung sein.

Ein Beispiel aus der Praxis

In einem Team, das ich begleiten durfte, ging es ursprünglich um Zuständigkeiten: Wer trifft eigentlich Entscheidungen rund um das Produkt-Backlog? Die Diskussion wirkte zunächst sachlich. Doch nach ein paar Wochen zeigte sich: Zwei Teammitglieder hatten sich komplett zerstritten. Sie sprachen nicht mehr direkt miteinander, sondern kommunizierten nur noch über Dritte oder über das Ticket-System. In Meetings wurde der jeweils andere demonstrativ ignoriert. Es gab Sticheleien, offene Ablehnung, Rückzugsverhalten. Die anderen im Team wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Sie hielten sich einfach raus, hofften auf eine Beruhigung, wenn nur einfach Zeit vergehen würde.

In den Einzelgesprächen wurde klar: Beide fühlten sich tief verletzt. Es ging längst nicht mehr um Backlogs, sondern um Anerkennung, Einfluss, persönliche Enttäuschung. Wir waren – ohne dass es jemand laut gesagt hätte – bereits irgendwo zwischen Stufe 5 und 6. Erst durch eine gezielte Konfliktmoderation mit viel Raum für Klärung und Perspektivwechsel konnte die Situation aufgelöst werden. Es war mühsam, aber am Ende hat das Team genau daraus enorm viel gelernt.

Was ich aus solchen Situationen immer wieder mitnehme: Konflikte entstehen selten über Nacht. Sie schleichen sich ein. Und wenn wir nicht rechtzeitig hinschauen, überholen sie uns.

Was das Modell für die Arbeit in agilen Teams bedeutet

In der agilen Praxis begegnen mir Konflikte regelmäßig: mal in der Retrospektive, mal im Daily, mal ganz subtil zwischen den Zeilen. Gerade weil agile Teams auf Selbstverantwortung und Transparenz setzen, braucht es ein hohes Maß an Konfliktreife. Und die kommt nicht von allein.

Das Glasl-Modell hilft mir dabei:

  • Frühwarnzeichen besser einzuordnen

  • Konfliktdynamiken zu spiegeln, ohne zu dramatisieren

  • das eigene Verhalten zu reflektieren (Was verstärke ich? Wo bleibe ich neutral?)

  • und das Team zu befähigen, Spannungen als Teil der Entwicklung zu begreifen, nicht als Störung.

Impulse für die Praxis

Konflikte enttabuisieren: Redet über Konflikte, bevor sie eskalieren. Nicht jedes Spannungsfeld braucht gleich ein Coaching, aber jedes verdient Aufmerksamkeit.

Spannungen sichtbar machen; Nutzt Retros, Check-ins, Stimmungsbarometer oder kurze Blitzlichter. Kleine Formate, große Wirkung.

Klare Vereinbarungen treffen: Wie gehen wir mit Konflikten um? Was ist für uns ein No-Go? Welche Sprache hilft und welche heizt auf? Teams, die sich hier einig sind, bleiben handlungsfähig.

Führung zeigt sich in Haltung: Als Führungskraft geht es nicht darum, den Konflikt zu lösen, aber darum, ihn anzusprechen, Raum zu schaffen und zu begleiten. Das ist oft schon die halbe Miete.

Frühzeitig Unterstützung holen: Nicht aus Angst, sondern aus Verantwortung. Konfliktmoderation ist keine Schwäche, sondern eine Investition in die Zukunftsfähigkeit des Teams.


Das Eskalationsmodell von Glasl gehört für mich zum Handwerkszeug jeder Person, die mit Teams arbeitet. Es hilft, den Nebel rund um Konflikte zu lichten und systematisch hinzuschauen: Was passiert hier gerade? Wo stehen wir? Was brauchen wir wirklich?

Konflikte sind keine Katastrophe. Aber sie brauchen Klarheit, Aufmerksamkeit und manchmal einen Perspektivwechsel von außen. Wer sich früh damit beschäftigt, kann nicht nur Schaden vermeiden – sondern echte Entwicklung ermöglichen. Für einzelne, für Teams, für Organisationen.

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