Nachhaltige Entwicklung statt Dauerfeuer

"Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können."

Wer möchte nicht nachhaltig und gesund arbeiten? Doch wenn wir ehrlich sind, sieht der Alltag in vielen Teams ganz anders aus: Sprints sind randvoll, Meeting jagt Meeting, Fokuszeit ist Mangelware. Statt Gleichmäßigkeit erleben viele Teams permanente Anspannung. Und das nicht nur vor einem wichtigen Release, sondern Woche für Woche.

Die Idee eines gleichmäßigen, langfristig haltbaren Tempos klingt da fast schon utopisch. Und doch lohnt sich gerade hier ein genauer Blick. Denn dieses Prinzip ist kein Wohlfühlprogramm, sondern eine klare Einladung das System zu hinterfragen. Wie arbeiten wir? Was davon ist stabil? Und wo erzeugen wir gerade selbst die Überlast, unter der wir dann ächzen?

Warum uns nachhaltiges Tempo so schwerfällt

In vielen Organisationen ist Überlastung nicht die Ausnahme, sondern der Normalzustand. Und das Fatale daran: Sie hat sich so tief eingespielt, dass sie kaum noch auffällt. "So ist das eben gerade" – diesen Satz höre ich oft, wenn Teams über ihren Alltag sprechen. Und klar, manchmal gibt es echte Engpässe oder heiße Phasen. Aber wenn jede Woche eine heiße Phase ist, dann stimmt etwas nicht.

Ein paar typische Muster:

  • Die Planung ist von Anfang an überambitioniert – weil wir hoffen, dass schon alles gut gehen wird.

  • Es gibt kaum Puffer für Unvorhergesehenes – obwohl wir längst wissen, dass immer etwas dazwischenkommt.

  • Verbesserung und Lernen stehen ganz hinten auf der Liste – weil „erstmal das Projekt fertig werden muss“.

  • Teamkapazitäten werden wie Maschinenstunden gerechnet – ohne Blick auf Kontextwechsel, mentale Erschöpfung oder Kommunikationsaufwand.

Das Problem ist nicht, dass wir keine Zeit hätten. Das Problem ist, dass wir uns keine Zeit nehmen, weil das System darauf ausgerichtet ist, immer am Limit zu arbeiten.

Was nachhaltige Entwicklung wirklich bedeutet

Nachhaltigkeit bedeutet nicht, dass alles gemächlich zugeht. Es bedeutet auch nicht, dass Teams nie unter Druck stehen dürfen. Aber es bedeutet, dass wir bewusst mit unseren Ressourcen umgehen – sowohl mit denen des Teams als auch mit denen der Organisation.

Ein gleichmäßiges Tempo ist eines, das auch dann funktioniert, wenn nicht alles glattläuft. Wenn jemand krank wird. Wenn ein Feature länger dauert als gedacht. Wenn es Reibung gibt, weil ein neues Teammitglied dazukommt oder sich Anforderungen ändern.

Und es ist ein Tempo, das Entwicklung nicht nur auf das Produkt bezieht, sondern auch auf die Menschen, die es erschaffen. Nachhaltig entwickeln heißt: Wir schaffen Wert, ohne uns dabei selbst zu verschleißen.

Drei Fragen, die Teams weiterbringen können

  1. Wie geht es uns gerade als Team – so in ehrlich? Fühlen wir uns stabil, arbeitsfähig, in Balance? Oder hangeln wir uns von Woche zu Woche?

  2. Wie sehr bestimmen Auslastung und Deadline-Druck unsere Arbeit? Und was würde sich ändern, wenn wir stattdessen Lernzyklen und Fokuszeit priorisieren würden?

  3. Was wäre eine mutige, kleine Entscheidung in Richtung Nachhaltigkeit? Vielleicht ein halber Tag Fokuszeit pro Woche? Weniger parallele Themen? Oder das ehrliche Gespräch mit dem Management darüber, was gerade wirklich leistbar ist?

Kleine Veränderungen mit großer Wirkung

Oft braucht es gar keine radikalen Umbrüche, um nachhaltiger zu arbeiten. Es braucht vielmehr ein Innehalten – und die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Tempo zu übernehmen.

  • Sprintplanung mit Absicht: Statt 100 % der verfügbaren Kapazität zu verplanen, bewusst 20–30 % freihalten – für Unerwartetes, für Pflege der Technik, für Reflexion.

  • Verlässliche Teamgrenzen: Klar definieren, was das Team leistet – und was nicht. Keine Ad-hoc-Aufträge durch die Hintertür, keine stillschweigende Überstundenkultur.

  • Routinen zur Energie-Reflexion: Wie wäre es, wenn ihr am Ende jedes Sprints nicht nur auf Storys schaut, sondern auch auf das Energielevel im Team? Eine einfache Skala von 1–10 reicht oft schon, um erste Muster sichtbar zu machen.

  • Verbesserung sichtbar machen: Alles, was das Arbeiten leichter, sinnvoller oder wirksamer macht, verdient seinen Platz im Backlog. Nicht als „Nice to have“, sondern als echter Bestandteil nachhaltiger Produktentwicklung.

Agilität lebt davon, dass Teams mitdenken, sich weiterentwickeln, Verantwortung übernehmen. All das braucht Energie. Und genau deshalb ist nachhaltiges Tempo kein Luxus, sondern eine Grundvoraussetzung.

Wenn wir dieses Prinzip ernst nehmen, gewinnen wir nicht nur Klarheit über unsere Belastungsgrenzen. Wir gewinnen auch Gestaltungsspielraum zurück, und damit die Chance, wieder gemeinsam in einen produktiven, gesunden Rhythmus zu finden.

Zurück
Zurück

Kundenzufriedenheit durch frühe und kontinuierliche Auslieferung?

Weiter
Weiter

Zwischen Anspruch und Alltag – warum agile Prinzipien oft schwer greifbar sind