Zwischen Anspruch und Alltag – warum agile Prinzipien oft schwer greifbar sind
Agil arbeiten – das klingt für viele erstmal einigermaßen klar: schneller lernen, besser zusammenarbeiten, näher an den Kund*innen sein. Die 12 Prinzipien des agilen Manifests sollen dabei als Kompass dienen. Und doch erleben viele in der Praxis etwas ganz anderes: Statt kontinuierlicher Auslieferung hangeln sie sich von Meilenstein zu Meilenstein. Statt nachhaltigem Tempo dominieren Überstunden. Statt selbstorganisierter Teams regiert oft Mikromanagement. Was ist da los?
Agile Prinzipien sind kein Rezept, sondern ein Spiegel
Schauen wir uns die 12 Prinzipien des agilen Manifests einmal genauer an: Sie sprechen von Kundenzufriedenheit, funktionierender Software, technischer Exzellenz, nachhaltigem Tempo, Vertrauen, Zusammenarbeit, Einfachheit. Alles klingt plausibel, und trotzdem bleibt es oft abstrakt. Denn: Die Prinzipien sind bewusst offen formuliert. Sie liefern keine „So geht's“-Anleitung, sondern fordern Organisationen und Teams dazu auf, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Prinzipien helfen nicht dadurch, dass man sie „befolgt“. Sie helfen, indem sie als regelmäßiger Reflexionsanlass dienen. Sie halten uns einen Spiegel vor: Wie weit sind wir entfernt von dem, was wir eigentlich wollen? Und warum?
Das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität ist nicht das Problem, sondern der Einstieg
In vielen Workshops höre ich Sätze wie:
„Wir arbeiten schon lange agil – aber es fühlt sich nicht wirklich so an.“
„Wir haben ein tolles Setup – aber irgendwas klemmt in der Zusammenarbeit.“
„Wir reden viel über Werte und Prinzipien – aber im Alltag bleibt wenig davon übrig.“
Diese Spannungen sind keine Ausnahme. Sie sind normal. Und: Sie sind sogar wichtig. Denn nur wenn wir wahrnehmen, wo es klemmt, können wir anfangen, darüber zu sprechen – und vielleicht sogar etwas zu verändern.
Ein paar Beispiele:
Wir wollen den Kund*innen früh und regelmäßig Wert liefern – aber unser Releaseprozess dauert Wochen.
Wir streben technische Exzellenz an – aber Bugs werden aus Zeitgründen regelmäßig ignoriert.
Wir schätzen Individuen und Interaktionen – aber unser Reporting frisst den halben Sprint.
Das sind keine individuellen Fehler. Das sind Systemspannungen, die sichtbar machen, wo Organisation, Kultur oder Prozesse den Prinzipien noch im Weg stehen. Genau hier liegt das Lernpotenzial.
Warum Reflexion so entscheidend ist – und Rituale allein nicht reichen
Agilität wird oft mit bestimmten Formaten verwechselt: Daily, Retro, Planning. Alles wichtig, aber: Wenn diese Meetings nur noch durchgezogen werden, ohne ein echtes Innehalten, dann bleiben sie leer.
Die 12 Prinzipien können hier eine neue Tiefe bringen. Sie sind eine Einladung, innezuhalten und zu fragen:
Was davon erleben wir konkret in unserer täglichen Zusammenarbeit?
Wo stehen wir uns selbst im Weg – bewusst oder unbewusst?
Was könnten erste, kleine Veränderungen sein, um uns wieder stärker an den Prinzipien auszurichten?
Prinzipien ernstnehmen heißt, den Alltag immer wieder zu hinterfragen
Agile Prinzipien entfalten ihre Wirkung nicht durch das Auswendiglernen, sondern durch das Erleben und Reflektieren. Sie helfen uns, über das hinauszudenken, was im Moment bequem oder üblich ist. Und genau darin liegt ihr Wert: Sie fordern uns heraus. Nicht als dogmatische Vorgabe, sondern als Einladung.
Wenn ihr die Spannungen zwischen Prinzip und Realität im Team sichtbar macht, entsteht etwas Wertvolles: echte Auseinandersetzung. Und aus der kann echte Veränderung entstehen – nicht über Nacht, aber Schritt für Schritt.
Die Prinzipien hinter dem agilen Manifest könnt ihr hier nachlesen: https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html, und falls ihr etwas völlig anderes macht als Softwareentwicklung: Die gelten trotzdem, ich bin sicher, ihr findet passende Übersetzungen und Anpassungen, wo erforderlich.