Prinzipien als Spiegel: Wie Teams agile Werte wirklich zur Wirkung bringen
Viele Teams kennen die agilen Prinzipien zumindest dem Namen nach. Manche haben sie sogar im Teamraum aufgehängt oder als Poster im digitalen Whiteboard verlinkt. Und trotzdem bleiben sie im Alltag oft blass. Es fehlt der Bezug zur eigenen Arbeit, zum echten Geschehen im Team. Das ist schade – denn genau hier liegt der größte Hebel für echte Weiterentwicklung.
Denn die Prinzipien des agilen Manifests sind nicht dazu gedacht, bewundert oder auswendig gelernt zu werden. Sie wollen gelebt, überprüft, diskutiert und weiterentwickelt werden. Und genau dafür brauchen sie Raum. Nicht nur in Workshops oder bei Team-Offsites, sondern mitten im Arbeitsalltag.
Prinzipien sind dann wirksam, wenn sie uns zum Nachdenken bringen
Die meisten Teams arbeiten in einem Umfeld voller Anforderungen, Termine, Meetingketten und Parallelbaustellen. Da ist es verständlich, dass es manchmal schwerfällt, einen Schritt zurückzutreten. Aber genau das ist es, was die Prinzipien ermöglichen können: einen Perspektivwechsel. Einen Moment des Innehaltens, in dem wir fragen: Was tun wir hier eigentlich gerade? Und warum?
Ein Prinzip wie „frühe und kontinuierliche Auslieferung“ kann dann zum Gesprächsanlass werden: Wie früh ist „früh“ für uns? Was hindert uns daran, öfter zu liefern? Wie erleben unsere Nutzer*innen eigentlich die Qualität unserer Ergebnisse? Oder das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung: Was wäre ein Tempo, das wir wirklich halten können – auch noch in drei Monaten?
Es geht nicht darum, die Prinzipien dogmatisch zu interpretieren. Sondern darum, sie als lebendigen Referenzrahmen zu nutzen. Eine Art innerer Kompass, der hilft, sich immer wieder neu auszurichten, im Kleinen wie im Großen.
Die Prinzipien-Retrospektive
Ein Format, das sich dafür gut eignet, ist eine “Prinzipien-Retro”. Sie funktioniert im Grunde ganz einfach und entfaltet doch oft erstaunliche Wirkung:
Prinzipien sichtbar machen: Hängt die 12 Prinzipien gut lesbar auf oder legt sie auf einem digitalen Board ab. Wichtig: nicht nur lesen, sondern wirken lassen.
Einzelreflexion: Jede Person wählt zwei Prinzipien:
Eins, das im Team aktuell gut gelebt wird.
Eins, das zu kurz kommt oder schwer umzusetzen ist.
Austausch im Team: Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Wo unterschiedliche Wahrnehmungen? Welche Muster zeigen sich?
Ableitung für die nächsten Wochen: Was wollen wir konkret tun, verändern, ausprobieren? Kein Aktionismus, sondern ein bewusster nächster Schritt.
Optional lässt sich eine einfache Bewertungsskala ergänzen (z. B. von 1 = kaum spürbar bis 5 = sehr präsent), um Entwicklungen über die Zeit sichtbar zu machen. Auch ein Fotoprotokoll der Karten kann später wertvoll werden – zur gemeinsamen Reflexion im Quartalsturnus oder als Gesprächsgrundlage im Führungskontext.
Prinzipien als gemeinsame Sprache – nicht nur im Retro-Raum
Die eigentliche Wirkung der Prinzipien entfaltet sich dann, wenn sie in den Arbeitsalltag hineinwirken. Wenn sie Teil der Sprache werden, mit der Teams über ihre Arbeit sprechen. Nicht als Buzzwords, sondern als ehrliche Gesprächsanlässe.
Beispiele aus echten Teams:
„Wir haben diesen Sprint viel geliefert, aber ich frage mich: War da auch echter Wert für unsere Nutzer*innen dabei?“
„Wir wollten dieses Feature unbedingt durchziehen, aber ehrlich gesagt war der Sprint komplett überladen. Wie geht's euch damit?“
„Mir fällt auf, dass wir in letzter Zeit wenig Raum für technische Exzellenz haben. Wann nehmen wir uns wieder bewusst Zeit dafür?“
Wenn solche Sätze gesagt werden dürfen – und gehört werden – passiert etwas Entscheidendes: Die Prinzipien werden nicht länger als abstrakter Maßstab von außen verstanden, sondern als kollektive Orientierung von innen. Und das verändert nicht nur Gespräche – es verändert Kultur.
Und jetzt?
Agile Prinzipien sind keine Zielvorgaben, die man einmal erreicht und dann abhakt. Sie sind eher wie ein Spiegel, den wir uns immer wieder vorhalten können: Wo stehen wir gerade? Wie geht es uns mit dem, was wir tun? Und wie gut passt das zu dem, was wir eigentlich wollen?
Dieser Spiegel kann unbequem sein. Er kann Fragen aufwerfen, die keine direkte Antwort haben. Aber genau das ist seine Stärke. Denn Teams, die sich regelmäßig mit solchen Fragen auseinandersetzen, entwickeln sich weiter. Nicht durch Druck von außen, sondern durch Einsicht und gemeinsame Entscheidung.
Und genau darum geht es letztlich in agiler Zusammenarbeit: Nicht nur anders zu arbeiten, sondern bewusster. Schritt für Schritt. Prinzip für Prinzip.