Reflexion? Dafür ist jetzt keine Zeit.
„Dafür ist jetzt wirklich keine Zeit!“ Dieser Satz fällt oft, wenn es brennt. Coaches hören ihn nicht nur, sie denken ihn auch. Inmitten von Teamprozessen, kniffligen Dynamiken und Arbeitsalltag. Zwischen Mails, Moderationskarten und To-dos. Reflexion? Später vielleicht. Wenn wieder Luft ist. Dann, wenn es ruhiger wird.
Genau da liegt das Dilemma: Gerade wenn’s ruckelt, wenn’s drückt, wenn alles gleichzeitig passiert – dann wäre ein Moment des Innehaltens eigentlich Gold wert (wissen wir alle und trotzdem fällt es schwer). Das gilt nicht nur für uns, sondern auch für Teams. Doch genau dann fällt es schwer. Der Impuls ist: Weitermachen. Funktionieren. Klären kann man später.
Reflexion unter Druck wirkt erstmal wie ein Widerspruch. Doch sie ist kein Stopp-Knopf. Sie ist ein Orientierungspunkt. Wie ein kurzer Blick auf die Karte im Gelände, bevor es weitergeht. Nicht, um alles gleich zu lösen. Sondern um nicht blind weiterzurennen. Gerade in Phasen hoher Komplexität oder emotionaler Spannung brauchen wir nicht mehr Tempo, sondern eben mehr Klarheit. Die To-dos laufen ja nicht weg.
Was tun, wenn keine Zeit für Reflexion ist?
Viele Teams kennen das Spiel: Sprint vorbei, aber die Retro fällt aus. Oder sie findet statt, aber alle sind mit dem Kopf woanders. Reflexion als lästige Pflicht statt echter Check-in.
Das Spannende: Es liegt selten an fehlender Zeit. Sondern an der Vorstellung, dass Reflexion viel Raum, Struktur oder Vorbereitung braucht. Dabei reicht oft auch ein kleines Zeitfenster, wenn es gut gesetzt ist. Eine gute Frage, ein Moment des Stillwerdens, eine bewusste Pause. Es geht nicht um die Menge, sondern um die Qualität der Aufmerksamkeit.
Coaches, Teamleitungen und Facilitator*innen können hier Impulse setzen: Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit echtem Interesse. Mit einem offenen Ohr und mit der Haltung: Es ist okay, wenn gerade nicht alles rund läuft. Aber es ist hilfreich, wenn wir hinschauen.
Drei Reflexionsformate, die auch in heißen Phasen funktionieren
1. Blitzlicht mit Tiefgang
Zum Start eines Meetings: „Was fordert mich gerade heraus?“ Kein Austausch, kein Kommentar – nur ein Satz pro Person. Still, direkt, verbindend. Und: Selbstkontakt statt Smalltalk. Wer zuhört, erfährt viel über Energie, Fokus und Stimmungslage. Ganz ohne Analyse. Schon das Miteinander-Teilen kann Beruhigung auslösen: “Ich bin nicht allein” oder “Es gibt doch Unterstützung”.
2. Mini-Dialog mit Musterblick
Kurz vor Feierabend: Zu zweit fünf Minuten. „Was war heute typisch für uns?“ – „Was will ich morgen anders machen?“ Keine Analyse, keine riesige Lösung. Nur Muster erkennen und wieder loslassen. Die Fragen wirken wie ein kleines, mentales Spiegelglas.
3. Perspektivwechsel to go
Zwischendurch, im Kopf: „Was würde ein neues Teammitglied denken, wenn es uns heute beobachtet hätte?“ Dieser kleine Perspektivschwenk bringt Abstand und einen anderen Blick. Besonders hilfreich, wenn sich Diskussionen im Kreis drehen oder Gewohnheiten festfahren.
Reflexion ist ein Muskel
Reflexion ist kein Extra. Sie ist eine Haltung, die Muskeln erfordert. Wie jeder Muskel will sie trainiert werden. Mit jedem bewussten Moment wächst unsere Fähigkeit, über unser Denken nachzudenken. Genau diese Kompetenz ist in komplexen, unsicheren Situationen entscheidend: Dort, wo Routinen nicht mehr greifen, braucht es Reflexionsfähigkeit als Führungsinstrument.
Und das zahlt sich aus: Wer regelmäßig reflektiert, erkennt Muster früher. Bleibt handlungsfähig. Und kann in Spannungsfeldern mit mehr Klarheit agieren. Teams, die sich das gemeinsam aneignen, entwickeln ein starkes gemeinsames Lernfeld und stärken damit ihre Resilienz.
Neuropsychologisch gesprochen: Reflexion aktiviert den präfrontalen Cortex, unser Zentrum für bewusste Steuerung. Unter Stress hingegen übernimmt oft das limbische System. Schnell, emotional, reaktiv. Reflexionsmomente schaffen Balance. Sie holen uns zurück in die Gestaltung.
Reflexion ist keine Kür – sie ist Navigation
Für Teams und für uns als Coaches ist Reflexion kein Luxus, den man sich gönnt, wenn alles ruhig ist. Sondern ein Werkzeug, wenn’s unübersichtlich wird. Gerade dann. Denn manchmal müssen wir auf die ersehnte Ruhe lange warten.
Reflexion muss nicht groß, nicht perfekt, nicht geplant sein. Aber sie braucht Raum, einen Moment, eine Frage.
Manchmal reicht genau das, um aus Reaktion wieder Richtung zu machen. Nicht, weil wir alles wissen oder lösen, sondern weil wir uns einen Moment zum Hinschauen nehmen. Und dann eben bewusst entscheiden, wie wir weitermachen wollen.